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Brian Laurins Streifzüge durch Literatur und Leben II - Kolumne 3


Die entfesselte Begierde


Wie wäre es, in einer Welt aufzuwachen, in der die normalen Gesetze von Zeit und Raum nicht mehr gelten, in der die geheimsten Begierden physisch manifest werden und der Alltag aufgelöst wird durch ein Vielzahl scheinbar magischer Phänomene, die vom kleinsten Detail bis zum großflächigen Ereignis die Realität ins Wanken bringen?

 

Genau das geschieht in Angela Carters Roman Die infernalischen Traummaschinen des Doktor Hoffmann ("The infernal desire machines of Doctor Hoffmann", 1972). Eine südamerikanische Stadt unter fantastischer Belagerung, Türen wechseln allmählich die Farbe, Armbanduhren werden von Flechten überwachsen, nackte Frauen paradieren am Bahnhof, Spatzen wachsen Zähne, mythische Gestalten steigen aus Gemälden und provozieren Orgien in der nächsten Kneipe, längst überbaute Wege und Straßen tauchen wieder auf, eine tote Mutter kehrt wieder als schuldbewusste Eule. Desiderio, ein Angestellter der Stadt, ist allerdings gelangweilt. Während immer mehr Stadtbewohner den Verstand verlieren und Suizid begehen, bleibt er unbeeindruckt von dieser entfesselten Fantasie. Darum wird er von seinem Chef, dem Minister und Anführer der Gegenwehr gegen diesen Angriff, auf eine heikle Mission angesetzt, er soll den Verursacher dieses Schreckens, Doktor Hoffmann, finden und unauffällig töten. So beginnt Desiderios Odyssee, die ihn zu diversen Orten und Gestalten führt. Was ihn jedoch treibt, ist nicht die Sorge um seine Stadt, sondern die Liebe zu Albertina, Doktor Hoffmanns mysteriöser Tochter.


Oberflächlich gesehen lässt sich der Roman als pikareske Abenteuergeschichte lesen, der Held, der auf seiner Mission von Ort zu Ort gerät, Abenteuer erlebt (insbesondere auch solche sexueller Natur), dem Tod Mal um Mal entkommt und sich schließlich entscheiden muss zwischen Pflicht und Neigung. Aber zugleich ist der Roman ein Palimpsest, das mit Genres und Vorbildern spielt, hier der spitzzahnige Vampirdarsteller, dort die satirische Erkundung der Lebensgewohnheiten eines Zentaurenvolks. Der Roman ist so vielschichtig, dass ich nur ansatzweise Verweise auf die genutzten Vorbilder dechiffrieren konnte. Dieses Buch ist dicht getränkt mit Philosophie, Kulturbetrachtungen und Literatur.


Bei aller Hochkultur, die hier enthalten ist, spricht der Roman aber auch eine geradezu kindliche Vorstellungswelt an: die Welt, ein Schauplatz von magisch-wissenschaftlichen Phänomenen und Abenteuern. So kam mir in den Sinn, wie ich mir auf nicht enden wollenden Autofahrten mit meinen Eltern vorstellte, wie ein blitzschnell fliegender Kobold die Reise neben unserem Wagen begleitete. Solche magische Vorstellungswelt findet sich in diesem surrealen, jedoch ganz für Erwachsene geschriebenen Buch, in dem Tod, Schmerz und Gewalt durchgehend bestimmende Merkmale bilden.


Wer reichhaltige, wortreiche Sprache liebt, der findet sie in diesem Roman. Sogar wurde der Autorin zum Vorwurf gemacht, dass sie zu viele Analogien und Metaphern benutzt. Persönlich habe ich diesen Eindruck nicht, aber das ist Geschmackssache. Bei aller Fantastik ist dieses Buch außerdem ein feministisches Werk. Frauen werden einerseits als Gefangene in patriarchalen Systemen porträtiert, andererseits sind es in der Regel sie, die trotz aller Unterdrückung und männlicher Gewalt die besonders eindrücklichen Figuren abgeben, so auch Albertina, des Doktors Tochter, die einen viel entschiedeneren und zielorientierteren Eindruck als Desiderio macht.


Die infernalischen Traummaschinen des Doktor Hoffmann bietet eine schillernde Oberfläche, unter der sich Komplexitäten von Bedeutung verbergen. Funktionieren tut das Buch für Leser:innen beider Couleur.


 

Anmerkung des Verlags: Hurra! Dies ist die dritte neue Kolumne von Brian Laurins Streifzügen durch Literatur und Leben. Weitere Texte werden in den nächsten Monaten folgen.


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