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Brian Laurins Streifzüge durch Literatur und Leben II - Kolumne 1


Brutal und direkt


Das Cover meiner Ausgabe von Boris Vians Roman „J’irai cracher sur vos tombes“ (Ich werde auf Eure Gräber spucken, erschienen 1946) zeigt eine sichtlich angeheiterte junge Frau in teurer Garderobe, auf dem Boden sitzend, ein Cocktailglas auf dem Knie balancierend. Zurückgelehnt in aufreizender Pose, scheint sie dazu einzuladen, sich über sie her zu machen. Verleitet von diesem Bild und nicht ganz durchdrungen von der Aussage des Titels erwartete ich eine Story von Sex und Alkohol, vielleicht eine Art Porno, etwas Laszives, Dekadentes. Ich bekam mehr als gedacht. Dekadent ist die Gesellschaft, in die Lee Anderson sich einschmuggelt, eine rassistische, weiße, vermögende Schicht von jungen Leuten, die exzessiv ihren Begierden nachgeht. Lee aber stammt in Wirklichkeit aus einer afroamerikanischen Familie, nur sieht er aus wie ein Weißer, mit blonden Haaren und heller Hautfarbe. Lee will blutige Rache üben für den Mord an seinem kleinen Bruder, der sich in ein weißes Mädchen verliebte und von dessen Verwandten umgebracht wurde.

 

Lee ist ein meisterhafter Verführer, wobei es ihm von den meisten Mädchen auch nicht sehr schwer gemacht wird. Seine Tarnung ist fast perfekt, nur seine Gesangsstimme erregt leichten Verdacht, da sie wie die eines Schwarzen klingt. Für keine Gelegenheit und für keine Perversion zu schade, dringt er, der in einer kleinen Stadt einen Job als Buchhändler angenommen hat, tief in das Gewebe der High Society ein. Er spielt zwei Schwestern gegeneinander aus, die er zu seinen Opfern erkoren hat. Und so vollzieht er seine Rache.


Erzählt wird die Geschichte überwiegend aus Lees Perspektive. Seine Erzählerstimme ist nüchtern und skrupellos, er verfügt über eine überlegte, raffinierte Art. Er ist ein harter Typ, geht zielstrebig seinen Weg, plant für alle Eventualitäten. Beseelt von seinem Verlangen nach Rache, nutzt er den äußeren Anschein aus und wird in die Gruppe der Weißen aufgenommen. Den Weg dahin ebnet er sich mit Alkohol und seinen Gitarren- und Gesangskünsten.


Lee hätte die Möglichkeit, „die Seiten zu wechseln“, also komplett einzutauchen in diese weiße Welt, seine Vergangenheit als Mitglied einer schwarzen Familie hinter sich zu lassen und all die Privilegien eines Lebens als Weißer zu genießen. Doch das Schicksal seines kleinen Bruders hält ihn davon ab. Er will die Symbole dieses weißen Systems zerstören, indem er ihr Vertrauen erschleicht und das tut, was schwarze Männer in rassistischer Lesweise weißen Frauen antun, mit ihnen schlafen und sie ermorden. Seine Rache soll vollkommen sein.


Die Opfer von Lees Rache werden porträtiert als leichtsinnige, selbstsüchtige, dekadente Töchter aus gutem Hause, die wenig Sympathie auf sich ziehen. Sie sind Spielball der Machenschaften Lees, der sie gekonnt manipuliert. Die Absurdität der Frage der Rassenzugehörigkeit zeigt sich am Maulwurf Lee, der die Rassenbarrieren mühelos aufgrund seines Äußeren passiert, dessen Identität jedoch verknüpft ist mit seiner schwarzen Herkunftsfamilie. Sein Hass auf die Weißen beherrscht sein Handeln. Er ist der Alptraum eines jeden weißen Rassisten.


Dass dieser Roman von 1946 brandaktuell ist, dürfte jedem bekannt sein, der Nachrichten verfolgt. Die U.S.A. als Land, in dem Rassismus ein Grundproblem der Gesellschaft darstellt, ist spätestens seit der Ermordung von George Floyd wieder in aller Bewusstsein.


Einen besonderen Hinweis verdient die Sprache des Buches. Kein Wort ist zu viel darin, es ist ein Ausbund ökonomischer Wortsetzung. Die Dialoge sind geschliffen, die Beschreibungen präzise und einleuchtend. Wie ein Kritiker sagte: Lisez Vian! Faite-le lire! Ja, lest Vian, wenn Ihr eine spannende Geschichte lesen wollt, in der nichts überflüssig ist und die Euch direkt in die kochende Hölle des Rassismus katapultiert.

 

Anmerkung des Verlags: Hurra! Dies ist die erste neue Kolumne von Brian Laurins Streifzügen durch Literatur und Leben. Weitere Texte werden in den nächsten Monaten folgen.


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