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Brian Laurins Streifzüge durch Literatur und Leben II - Kolumne 7


Die Gewalt bestimmt die Fakten


Manche Romane sind anders. Ich erwarte üblicherweise von einem Roman eine fest umrissene Zahl von Haupt- und Nebenfiguren, ein gewisses Setting, eine zusammenhängende Handlung. Bei „Das Grabmal des Boris Dawidowitsch" (Danilo Kiš, Grobnica za Borisa Davidoviča, 1976), werde ich in diesen Erwartungen durch die Bank enttäuscht. Der Roman besteht aus sieben lose zusammenhängenden Geschichten mit unterschiedlichen Protagonisten, sieben verschiedenen Räumen des Geschehens, sieben verschiedenen Handlungssträngen. Zusammengehalten werden diese Geschichten – abgesehen vom peripheren Auftauchen von Figuren aus einer Geschichte in der anderen – von dem übergreifenden Thema, den Auswirkungen einer totalitären Ideologie, in der Regel des Stalinismus, auf die handelnden Figuren.

 

Tod, Folter und Gefangenschaft sind die beherrschenden Merkmale dieser Schicksale. Zentral ist die Rolle, die die Ideologie der Obrigkeit spielt, ihr hat sich die Realität, haben sich die Tatsachen zu fügen. Es kommt nicht darauf an, was tatsächlich geschehen ist, die Schuld ist von vornherein festgelegt und das Geständnis des Angeklagten dient nur dazu, die höhere Wahrheit der Mächtigen zu bestätigen. Leben und Sterben unter der Gewalt einer unfehlbaren Autorität abzubilden – so ließe sich die Zielrichtung dieses Romans eventuell definieren.


Dem jugoslawischen Autor (wie die meisten seiner Figuren Jude) brachte seine Vorführung des Stalinismus die Feindschaft der literarischen Elite seines Landes ein, die sich als dessen Anhänger angegriffen sahen. Sie bezichtigten Kiš des Plagiarismus, fußend auf seiner meisterhaften Verwendung der Stile einer Reihe von Autoren.


Abgesehen von der sprachlichen Qualität des Romans – luzide, poetisch, kunstvoll – ist es vor allem die entblößende Darstellung von totalitärer Herrschaft, glaubhaft anhand der Biografien durchgestalteter Figuren, die mich so beeindruckt. Wer sich mit Stalinismus und totalitärer Ideologie auseinandersetzen will, kann sich mit diesem schmalen Buch (190 Seiten) literarisch in jene historische Zeit versetzen lassen. Hier finden sich Gestalten, die ganz plastisch vor das geistige Augen treten und Geschichte lebendig werden lassen.


Der Blick geht heute zu all jenen Ländern und Situationen, in denen Gewalt sich absolute Autorität anmaßt, und in denen die Schuld eines Menschen feststeht, bevor die allererste Untersuchung begonnen hat. Die Mechanismen sind die gleichen, ob im Mittelalter bei Pogromen an Juden oder in späteren totalitären Systemen. Wer eine Idee davon haben will, wie solches Denken funktioniert, wird in diesem Roman glänzende Beispiele dafür finden.

 

Anmerkung des Verlags: Hurra! Dies ist die siebte neue Kolumne von Brian Laurins Streifzügen durch Literatur und Leben. Weitere Texte werden 2022 folgen.


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