Brian Laurins Streifzüge durch Literatur und Leben - Kolumne 2
Vom Verstörenden des Außenseiterdaseins
"Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt." Mit diesem Satz beginnt Franz Kafkas berühmte Erzählung "Die Verwandlung" und in ihm ist auch schon, in nuce, die ganze Geschichte enthalten; ein Mensch ist über Nacht, begleitet von einer Andeutung von Alpträumen, in ein Ungeheuer verwandelt, die Konsequenzen lassen sich, ohne die Geschichte auch nur ganz gelesen zu haben, vorausahnen: Verlust seiner Rechte und Pflichten als Mensch, Ausstoßung aus dem Kreis seiner Familie, Ächtung seitens der Gesellschaft.
Dass diese Katastrophe einen seelischen Hintergrund hat, lässt die Verbindung der Verwandlung mit den Untiefen des Schlafes vermuten, die Metamorphose ist ein Produkt des Schlafes, in dem die unbewussten Bereiche des Menschen ihre Macht entfalten können. Rührend und gleichzeitig auf eine surreale Weise komisch die Sorgen, die sich der Handlungsreisende nach dem Aufwachen macht; er stellt zwar fest, dass er nicht mehr seinen gewohnten Körper bewohnt, aber die ganze Tragweite dieser Veränderung wird ihm erst nach und nach bewusst, dann nämlich, als ihn die Reaktionen seiner entsetzten Familie zu einer Existenz als isoliertes Untier zwingt. Seine Gedanken gelten zunächst noch seinen Verpflichtungen gegenüber Familie und Geschäft, er bemüht sich krampfhaft, den Anschein von Normalität zu wahren, was ihm aber schon in dem Augenblick restlos missglückt, als ihn seine Familie und der herbeigeeilte Prokurist seines Arbeitgebers zum ersten Mal erblicken. Auch seine Angehörigen erkennen nicht sofort die ganze Bedeutung dieser Veränderung, besonders die Mutter tut sich schwer damit, das Unglück zu akzeptieren, wohingegen seine Schwester bald als einzige die Bedürfnisse des Käfers, der Gregor Samsa nun ist, experimentell erkundet und beginnt, Samsas Zimmer zu einem für ein Wände und Zimmerdecke bekrabbelndes Insekt geeigneten Aufenthaltsort zu verändern. Der Vater erweist sich als erbittertster Gegner des Sohnes, sich erhebend aus seiner bis dahin vorherrschenden Lethargie verletzt er den Rückenpanzer des Käfers mit einem zielsicher geworfenen Apfel. Je länger Samsas besondere Situation andauert, desto gleichgültiger beziehungsweise feindseliger wird seine Umgebung, bis der Käfer, ausgehungert und vernachlässigt, sich in sein Schicksal ergibt und verendet. Die Familie hat sich inzwischen auf ein Leben ohne den bisherigen Alleinverdiener der Familie eingestellt, alle drei, Vater, Mutter und Tochter haben Stellungen angenommen, ihre Zukunft erscheint in einem rosigen Licht und für die Tochter wird sogar eine weitere Existenzsicherung in Form einer Verehelichung ins Auge gefasst: "Und es war ihnen wie eine Bestätigung ihrer neuen Träume und guten Absichten, als am Ziele ihrer Fahrt die Tochter als Erste sich erhob und ihren jungen Körper dehnte."
Die körperliche Verwandlung des Handlungsreisenden Samsa in einen Käfer und damit in einen fremdartigen Außenseiter entwirft eine phantastische Situation, die sich auf viele reale Situationen übertragen lässt. Außenseiter, die nicht in die gesellschaftliche Norm passen, können sich in Samsa wiedererkennen. Der Künstler selber ist auch, unter Umständen, solch ein Außenseiter, er oder sie erkundet bei Verlassen der gewohnten Trampelpfade Welten, die nicht ohne Weiteres dem common sense zugänglich sind, betritt seelische Räume, die irritieren und erschrecken können und die Mehrheitsgesellschaft durch ihre Fremdartigkeit und ihr beunruhigendes seelisches Potential zu mitunter heftigen, auch ausschließenden Reaktionen provozieren. Das Außenseiterdasein ist ein bei Kafka häufig anzutreffendes Motiv, die Hauptfiguren seiner drei Romane "Amerika", "Das Schloß" und "Der Proceß" sind alles drei Randständige, die sich darin abmühen, Teil der normalen Gesellschaft zu werden beziehungsweise zu bleiben und sich dabei immer wieder mit Verhängnissen konfrontiert sehen, die ihnen ihr selbst gesetztes Ziel katastrophal erschweren oder unmöglich machen. So gesehen ist "Die Verwandlung" das extremste Beispiel einer solchen Außenseiterposition, bei der von Anfang an keine Hoffnung besteht, gesellschaftliche Integration zu erlangen. Abgesehen von der traumartigen Qualität der Geschehnisse in Kafkas Texten und der dominanten Erzählperspektive aus einem männlichen Bewusstsein heraus ist die große, häufig vergebliche Anstrengung seitens der Hauptfiguren, irgendwie dazu zu gehören, eines der augenfälligen Merkmale. Die mit Händen zu greifende Ohnmacht seiner Protagonisten, ihr so oft im Sande verlaufendes Ringen um gesellschaftliche Anerkennung und die unablässige Bedrohung ihrer gefährdeten Position ist ein Hauptmerkmal von Kafkas Welt. Diese Mal um Mal poinitert vorgebrachte riesiege, vom Scheitern umflossene Anstrengung macht einen beträchtlichen Teil der Anziehungskraft von Kafkas Texten aus, die so, sieht man von den phantastischen und traumartigen Elementen ab, auf zugespitzte Weise etwas sehr Reales aussagen, nämlich dass die Integration in jedwede Gesellschaft stets von der Mühe begleitet ist, die Dazugehörigkeit immer wieder aufs Neue durch Anpassungsleistungen und gezielte Einflussnahme zu etablieren. Kafkas verdichtete Aussage geht dahin, dass der Wunsch nach Zugehörigkeit stets auf den Widerstand der vielen stößt und ihm immer ein Element von Scheitern beigegeben ist, das letztlich unauflösbar bleibt. Selbst in "Amerika", in dem der jugendliche Protagonist am Ende wenigstens Aufnahme in einen Wanderzirkus erreicht, erscheint die Integration noch immer gefährdet und im Zweifel.
Für jeden Menschen stellt sich die Frage, mit welchen Strategien ein Angenommensein in der Gesellschaft erreicht werden kann. Wer sich mit Kafka beschäftigt, stellt fest, dass dieses Angenommensein in sich keine feste, verlässliche Stabilität garantiert, ja dass zweifelhaft ist, ob solch ein Angenommensein jemals in dem Maße stattfinden kann, das die menschliche Sehnsucht nach solch einer fraglosen Annahme als Zielpunkt imaginiert. Die unablässige Hinwendung zu diesem Thema durchzieht wie ein roter Faden Kafkas Prosa, wenn sich seine Texte auch nicht in diesem einen Thema erschöpfen; die Vielschichtigkeit seines Werks reicht weit über jede einzelne Interpretation hinaus. Nicht jedem und zu jeder Zeit mag sich Kafkas Lebensthema erschließen, wer jedoch die Erfahrung der Zerbrechlichkeit der eigenen Existenz, sei es durch Krankheit, Unglück oder sonstige Lebensereignisse und -erfahrungen, gemacht hat, dem wird Kafkas Auseinandersetzung mit der Labilität menschlichen Strebens und Hoffens eingängig, der wird sich wiedererkennen in den Gestalten Kafkas, die mit solcher Ausdauer nach Einlass in die menschliche Gemeinschaft streben, auch wenn sie so häufig ihr Ziel entweder gar nicht oder nur unter Vorbehalt erreichen.